Ich weiß gar nicht mehr, wie alt ich war, als ich Klemens das erste Mal getroffen habe. Ich glaube er war einfach schon immer in meinem Leben präsent – ohne dass ich zuerst weiter über ihn nachdachte. Meine ersten Abenteuer, an die ich mich mit ihm erinnern kann, sind Geschichten, die ich geschrieben habe, als ich so ungefähr 9 Jahre alt war. Ich liebte es damals mit Zahlen zu spielen und so entstanden Geschichten von Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein, ihren Geschwistern und deren zahlreichen Abenteuern. Dass diese Wesen auch schon den Brüdern Grimm bekannt waren, wusste ich damals nicht und wäre mir auch nicht wichtig gewesen. Es waren schließlich meine Figuren, meine Geschichten und Klemens war es, mit dem ich sie mir zusammen ausdachte. Im Laufe meiner Jugendzeit folgten unzählige andere Projekte, zu denen er mich anstiftete: Kurzgeschichten, Theaterstücke, Lieder und Kompositionen. Klemens motivierte mich Teil einer Theatergruppe, einer Band und einer Musicalproduktion zu werden – mich einfach auszuprobieren.
Dann auf einmal – ich war gerade 18 und fertig mit meinem Abitur – verabschiedete sich Klemens aus meinem Leben. Wenn ich versuchte neue Lieder zu schreiben, erhielt ich nur lieblose Melodiefetzen mit abgedroschenen Phrasen und Plattitüden – nichts wirklich Schönes, geschweige denn Präsentierbares. Ich war frustriert und fühlte mich von ihm im Stich gelassen. Mein Verhältnis zu ihm war ziemlich angespannt. Ich war in dieser Zeit selbst damit beschäftigt, mir ein eigenes Leben, eine eigene Karriere aufzubauen, meine ersten taumeligen Schritte in ein Arbeitsleben zu wagen – und Klemens, der großartige Musiker, Literat und Abenteurer schwieg. Häufig hatte ich Sehnsucht nach einer erneuten Begegnung mit ihm und schließlich fragte ich mich, ob er jemals in mein Leben zurückkehren würde. Im Rückblick weiß ich, dass er trotzdem die ganze Zeit da war – nur in anderer Gestalt. Er ist der Teil von mir, der immer wieder mit neuen Ideen um die Ecke kommt, meine Schaffenskraft, meine Inspiration die nicht immer verfügbar ist, ein Gegenüber mit dem ich schon mein Leben lang in regem Kontakt stehe oder eben einfach Klemens.
Es dauerte 2 Jahre, für mein Empfinden damals eine Ewigkeit, bis Klemens sich spürbar wieder bei mir meldete – auf eine Weise, die ich nicht erwartete. Aus meinen Erfahrungen des schulischen Musik- und Kunstunterrichts war mir klar, dass Klemens Musiker ist, aber nie im Leben hätte ich ihn für einen Maler gehalten. Klemens aber wollte mir das Gegenteil beweisen – denn auf einmal bekam ich Leinwand und Farben in die Hände und legte los – intuitiv, experimentell und super kitschig. Ich bediente zunächst Klischees und war stolz auf meine Ergebnisse – besser wusste ich es nicht. Für mich war entscheidend: Klemens ist noch da.
Und er wurde mit der Zeit experimentierfreudiger und lernte glücklicherweise seit dem Einiges dazu. Nach einigen sehr produktiven Jahren umgeben von Leinwänden und Acryl, entschied sich Klemens schließlich, die Farben wieder mehr im Regal stehen zu lassen und zu Stift, Papier und Worten zurück zu kehren. Auf ein Medium festlegen wollte Klemens sich seit dem nie – er bevorzugt auf unterschiedlichen Wiesen zu spielen, immer dort, wo es für ihn Interessantes zu entdecken und auszuprobieren gibt.
Ein Jahr nach Klemens Rückkehr zog noch jemand bei mir ein. Jemand, der vielleicht schon länger da war, den ich bis dahin aber nie bemerkt hatte. Jemand, der mir erst nur diffus begegnete, ohne sich in seiner wirklichen Gestalt zu zeigen. Jemand, der mich im Dunkeln tappen lies. Erst einige Jahre später erfuhr ich seinen Namen: Es war Adrian, der unangenehme Bruder und Schatten von Klemens. Vernarrt in Sicherheit meldet er sich überschwänglich sowohl bei möglichen, als auch unmöglichen Gefahren. Seit seinem Erscheinen verhalten sich die beiden so, wie sich Brüder häufig verhalten: Sie streiten miteinander – in diesem Fall um meine Aufmerksamkeit. Manchmal – in schönen Momenten – gewinnt Klemens, manchmal leider auch Adrian und manchmal schaffe ich es beiden gleichzeitig gerecht zu werden.
Wenn mich jemand fragte, was für ein Künstler ich denn sei, geriet ich oft ins Stocken. Da Klemens so unterschiedliche Interessen verfolgte und Adrian ihn dafür kritisierte, hangelte ich mich häufig mit der Aussage durch, dass ich alles ein bisschen und nichts so richtig perfekt täte. Irgendwann verstand ich, dass ich Klemens auf diese Weise jedes Mal abwertete. Deshalb war es ein Durchbruch, als Klemens mir vor einer Weile verriet, dass er nicht nur auf einer Spielwiese zu Hause ist, sondern er tatsächlich mehrere Wiesen sein Eigen nennt – und das sei so auch völlig in Ordnung. Seit dem kann ich entspannter und mit etwas mehr Vertrauen antworten und mich einfach als Künstler aus unterschiedlichen Bereichen vorstellen. Dankbar bin ich auf jeden Fall, dass Klemens auch in anderen Angelegenheiten regelmäßig Adrian und seine Sichtweisen der Welt hinterfragt, seine Argumente entkräftet und meinen Horizont damit um viele wertvolle Facetten erweitert.
Da ich Klemens über die Jahre so sehr schätzen lernte, wollte ich ihn schließlich intensiver und besser kennen. Ich beschäftigte mich mit allem, was ich über ihn und seine Artverwanden finden konnte. Dabei entdeckte ich, dass er in Wahrheit als direkter Nachkomme des großen Schöpfers in mir tief und unauflöslich verwurzelt ist. Und wenn ich wieder einmal befürchte, dass sich Klemens für immer in den Urlaub verabschieden könnte, bin ich trotzdem beruhigt: Selbst wenn er einmal für längere Zeit verstummt oder ich ihn nicht verstehe, dann weiß ich dennoch sicher, dass er sich nie komplett verabschieden wird. Klemens ist an meiner Seite. Er war schon immer an meiner Seite und er wird es immer sein. Die entscheidende Frage ist dann oft nur, auf welcher Wiese er gerade spielt…
Dieser Artikel wurde veröffentlicht im Rahmen der Anthologie "Am goldenen Faden".
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