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Der nächste Morgen.

Montagmorgen

 

Es war ein seltsamer Morgen. Er hatte einen dicken Schädel vom Alkohol der vergangenen Nacht – aber nicht nur das: sein Schädel dröhnte, als ob 1000 kleine Nadeln auf ihn einhämmern würden. Ihm fiel es schwer, klar zu denken. Wann und wie er nach Hause gekommen war, konnte er sich nicht erinnern. Irgendwie hatte er die Nacht überstanden, geschlafen hatte er jedenfalls nicht. Müde und unter Schmerzen wälzte er sich schließlich aus dem Bett und tapste langsam in Richtung Bad. Beim Blick in den Spiegel glaubte er im ersten Moment, dass er noch träumte. Auf seiner Stirn entdeckte er ein Muster, mit Tinte eingraviert und rot umrandet – so als versuche seine Haut sich gegen einen erfolgten Eingriff zu wehren. Langsam reimte sein Kopf die Details des Vorabends zu einem Gesamtbild zusammen. Er erschrak. Das Stechen in seinem Kopf war nicht nur dem unkontrollierten Alkoholkonsum am Vorabend geschuldet, sondern auch dieser dämlichen Aktion auf die er sich eingelassen hatte. Im Übermut hatten er und seine Freunde beschlossen sich witzige Dinge auf den Körper zu malen, diese anschließend zu tätowieren und damit für immer zu verewigen. Er hatte irgendeinen Hintern bemalt, während jemand sein Gesicht zwischen die Finger bekam. Ineinander gewundene wilde Linien und Symbole erstreckten sich von seinem Haaransatz bis zu den Augenbrauen.

 

„Scheiße!“, entfuhr es ihm. Mit seinen Händen griff er nach dem Waschbecken, auf der Suche nach Halt. Ihm war schwindelig. Wie werden seine Familie, Freunde und Bekannte reagieren, wenn sie ihn so sehen – und noch viel schlimmer: Was wird sie dazu sagen? Seine Gedanken an die Frau, die er schon so lange verehrte, milderten seine Kopfschmerzen in keiner Weise. Das Beste wäre, wenn er seine Wohnung nie wieder verlassen, sich einsperren und zurückziehen würde. Er könnte hier einfach verhungern – dachte er. So unter Menschen zu treten, war auf jeden Fall keine Option. Die einzige Alternative, wäre es, immer eine Sturmmaske zu tragen und sie zu seinem Markenzeichen zu machen – unter der Ausrede an einem schlimmen Ausschlag zu leiden. Sido hatte es vor einigen Jahren immerhin ziemlich weit mit seiner Maske gebracht. Und alle rätselten damals um sein Gesicht. Das wäre seine Chance geheimnisvoll, attraktiv und anziehend zu werden. So könnte er endlich auffallen und nicht, wie so oft, in der Masse untergehen. Obwohl, auffallen würde er jetzt so oder so auch ohne Maske. Erneut blickte er in den Spiegel, in der leisen Hoffnung, dass die Muster sich auflösten und er aus diesem Albtraum erwachen würde. Vergeblich.

 

Er entdeckte unter den wilden Linien und Formen einige Buchstaben: Bustard.

Hatte sich jemand im betrunkenen Zustand verschrieben oder etwa einen schlechten Scherz erlaubt? Ein Bussard war zwar ein starker Vogel, trotzdem konnte er diesem Federvieh noch nie etwas abgewinnen – und ob Bastard so viel besser wäre, war fraglich. Aber das spielte keine Rolle, denn dort stand schließlich Bustard – was auch immer das sein sollte.

Er könnte neue Karrierewege einschlagen und bei einem Busunternehmen einsteigen, dachte er. „Guten Tag, ich bin ihr Bustard und wünsche Ihnen eine angenehme Reise!“ Da ihm beim Reisen aber schnell übel wird, würde es vermutlich nur ein sehr beschränkter Personenkreis ertragen, mit ihm unterwegs zu sein. Seinen Lebensunterhalt könnte er auf diese Weise daher nicht finanzieren. Das verkrüppelte Wort durch weitere Buchstaben zu retten, schien ebenso schwierig, es sei denn aBu stardust – „Sohn des Sternenstaubs" – würde sein neues Alter Ego. Er hatte einmal im Internet gesehen, dass es Menschen gibt, die ihren Körper soweit tätowieren, bis jedes Stück Haut Schwarz ist. Vielleicht sollte auch er seine Hautfarbe ändern und damit den Fauxpas kaschieren?

 

Sein Handy klingelte. „Alder, ich habe einen Esel auf meinem Arsch!“ hörte er die verkaterte Stimme von Felix sagen. Naja, ein Esel auf dem Arsch geht ja noch, das kann man zumindest leicht verstecken, dachte er. „Mein Gesicht ist voller Scheiß. Warst du das? Ich kann mich nicht erinnern!“

„Nein Alder, ich hatte mit deinem Gesicht nichts zu tun. Ich war mit Sandras Arm beschäftigt…“ röchelte Felix. „Ich geh mich mal duschen, bin total verkatert und gerade erst wach geworden!“

2 Minuten später klingelte das Handy erneut.

„Ich habe keine Seife mehr, kann ich kurz bei dir vorbei kommen?“

 „Nein, geh einkaufen!“ kläffte er den Hörer an. Er ahnte, dass Felix‘ Anliegen eigentlich ein anderes war.

„Alder, chill! Das ist doch sonst kein Problem!“

„Sonst ist mein Gesicht auch nicht mit lauter Scheiß bemalt!“

Ohne Felix‘ Antwort abzuwarten, legte er auf! Er wollte niemanden sehen – und schon gar nicht Felix, der über ihn lachen würde – während er ihm seinen dämlichen Esel-Arsch als Vergleich in die Fresse hielt.

Sein Handy klingelte wieder. Er drückte weg. Eine Nachricht erschien auf seinem Bildschirm. „Alder, sorry man. Ist es sehr schlimm?“ Für wen wäre es denn nicht schlimm, aufzuwachen und festzustellen, dass die eigene Stirn volltätowiert ist? Gern hätte er Felix in diesem Moment erschlagen. Er nahm sein Handy und tippte: „Ja. Zum Kotzen!“

 


 

Samstagnachmittag (2 Tage zuvor)

 

Endlich! Sie hatten es geschafft. Gleich wird er sein Papier in der Hand halten, das bestätigt, dass er sich nun offiziell eignete in die Wirtschaft einzusteigen, Steuern zu zahlen und irgendeinen wichtigen Posten in irgendeinem Unternehmen auszufüllen. Welcher Posten das in seinem Falle sein sollte, hatte er keinen blassen Schimmer. Er und seine Freunde träumten in den vergangenen Jahren gemeinsam davon, die Arbeitswelt zu revolutionieren, Verantwortung zu übernehmen und so nach und nach führende Posten an sich zu reißen.

Noch vor drei Wochen hatten sie, angetrieben von endlosen Mengen Koffein, die Nächte durchgearbeitet um ihre Abschlussarbeiten fertig zu schreiben, sie schnell noch drucken zu lassen und zu hoffen, dass alles bis zur Abgabe rechtzeitig fertig ist. Mit Auswirkungen der Digitalisierung auf den Hotelbetrieb von Morgen füllte er 30 Seiten einseitig bedruckt und von einer professionellen Bindung zusammengehalten.

Heute war er dann endlich Bachelor, und das nicht nur weil er noch Junggeselle war. Dina, auf die er schon lange ein Auge geworfen hatte, ließ ihn abblitzen, weil sie sich noch nicht bereit für etwas Ernstes fühlte. Dina wollte wohl noch ein bisschen ihre Unabhängigkeit genießen und setzte sich lieber für eine Partei, Tierschutz, den Fortgang der Weltraumforschung, die Gleichberechtigung von Tannenbäumen ein, und alles, was ihr sonst noch so über den Weg lief – aber eben nicht für ihn.

 

„Als nächstes bitte ich Dina Schneider, Samuel Thalheim, Sophie Tieneke, Helge Treptow und Vincent Ungethüm auf die Bühne“. Unter laut brandendem Applaus nahmen sie ihre Zertifikate entgegen. Er am einen Ende der Bühne, sie am Anderen. Wäre ihr Leben ein Theater, hätten sie beinahe eine tragische Fassung von Die Schöne und das Biest aufführen können. Das Leben ist aber leider selten ein Märchen mit Happy-End-Garantie, dachte er. Scheiß drauf! Heute Abend würde er mit seinen Freunden noch einmal richtig feiern, bevor sich ihre Wege trennten. Dina sollte ihm die Laune heute Abend nicht verderben!

 

Auf der Tanzfläche entwickelte sich der Abend zu einem Fest. Die Prozente im Fusel stiegen, die Umdrehungen beschleunigten den Abbau auch der letzten Hemmungen. Er tanzte, wild und berauscht vom Beat, der aus den Boxen dröhnte, in die Arme einer attraktiven Tänzerin. Am nächsten Morgen erwachte er in einer fremden Wohnung mit nur bruchstückhaften Erinnerungen an den Vorabend. Ihn überraschte, mehr als der fremde Ort, an dem er offensichtlich geschlafen hatte, dass er neben ihr aufwachte. War ihre Fassung von Die Schöne und das Biest doch hoffnungsvoller als angenommen? Seine Angebetete schlief friedlich an seiner Seite. Beinahe wollte er sich leise aus dem Zimmer stehlen, um diesen glücklichen Moment nicht durch irgendeine Dummheit zu ruinieren, als sie ihre Augen öffnete. „Guten Morgen, hast du gut geschlafen?“

 


 

Sonntagnachmittag

 

Felix und Sandra, die bereits seit einigen Jahren ein Paar waren, saßen entspannt mit ihm in ihrer Stammkneipe. Er erzählte von dem Frühstück mit Dina, danach dem langen Spaziergang und der Feststellung, dass ihre gemeinsame Nacht doch kein großer Fehler war. Sie konnten sich gut leiden. So wirklich fassen konnte er sein Glück noch nicht. Es war schneller gegangen, als er es je für möglich gehalten hatte. Seine Freude darüber konnte er schon den ganzen Tag kaum verstecken.

Nach einem Moment des Schweigens, meldete sich Felix zu Wort: „Was haltet ihr eigentlich davon, noch ein letztes Mal unsere Crew zusammen zu trommeln, bevor wir uns in alle vier Himmelsrichtungen zerstreuen?“

 


 

Sonntagabend

 

Das Wohnzimmer in dem sie sich versammelt hatten, begann langsam aus allen Nähten zu platzen. Da Felix‘ kleine Zweizimmerwohnung mit großem Südseite-Balkon direkt im Zentrum der Stadt lag, war dies der Lieblingstreffpunkt der Clique geworden. Am Himmel waren graue Wolken aufgezogen und es regnete. Sie saßen nicht wie sonst auf dem Balkon, sondern auf Couches und Kissen, in dem Raum, den sie sonst eher gut aus den Wintermonaten kannten. Gin, Zitronenscheiben, Gurkenstreifen und diverse andere Alkoholika verzierten den runden Glastisch in der Mitte des Zimmers. Leise Musik dudelte im Hintergrund. Sie waren in einer seltsam melancholischen und doch ausgelassenen Stimmung, einer Mischung aus Abschiedswehmut und der Erleichterung, dass der Studienstress der Abschlussphase nun endlich hinter ihnen lag. In den vergangenen Jahren waren sie als Gruppe zusammen gewachsen und dieser Abend würde diese gemeinsame Lebensphase beenden. Ihre Freundschaften würden sich verändern. Neue Abenteuer lagen vor ihnen. An diesen letzten gemeinsamen Abend, würden sie sich noch lange erinnern.

 

Im von vielen Menschen aufgeheizten Wohnzimmer mischte sich langsam der Geruch von Schweiß mit der hochprozentigen Luft und dem süßlichen Geruch von Gras. Zunehmend kam eine allgemeine Heiterkeit auf. Samuel entdeckte eine Packung Eddings auf Felix‘ Schreibtisch und lallete: „Isch hab eine riiiiiischtisch guude Ideee,…“

 


 

Montagmorgen

 

So wird mich keine Arbeitsstelle nehmen…, fuhr es durch seinen Kopf, als er, nach einem Beruhigungsschnaps, der hoffentlich auch seine Kopfschmerzen verdrängte, wieder im Bad stand. Scheiße! Warum hatte sich Felix eigentlich eine eigene Tätowiermaschine gekauft und warum lag diese beschissene Maschine ausgerechnet an ihrem letzten gemeinsamen Abend im Wohnzimmer herum? Er hasste Felix dafür. Aber eigentlich hasste er sich selbst noch viel mehr. Er hatte nicht nur seine vagen Karrierepläne endgültig ruiniert, sondern auch die Schöne würde von ihm sicher nichts mehr hören, geschweige denn sehen wollen. Kurz – für einen einzigen Tag – war die Hoffnung aufgekeimt, dass sie sich doch in das Biest verlieben könnte und ein märchenhaftes Happy End möglich wäre. Der Gedanke, sie zu verlieren, überrumpelte ihn. Seine Hand formte sich zur Faust und ohne, dass er verstand was er tat, flog sie auch schon mit aller Wucht in Richtung Spiegel. Der löste sich aus seiner Verankerung und zersprang in 1000 kleine Scherben, sie sich im gesamten Bad verteilten. Sein Körper bebte. Er betrachtete seine Hand. Sie blutete. Er dachte an die Packung viel zu starker Pillen in seinem Nachtschrank. Würden sie ihm vielleicht Erleichterung verschaffen? Waren sie – Dina und er – am Ende doch eher Romeo und Julia? Was seine Freunde wohl über ihn erzählen würden, wenn man ihn ausgekühlt und im Gesicht verstümmelt vorfände…

Seine Gedanken wurden wieder von seinem Handy unterbrochen. Diesmal eine Nachricht von ihr.

 

„Hey Vincent! Mir gehts total beschissen! Kannst du zu mir kommen? Bitte!? D.“

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