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In der Luft liegt Musik.

Gestresst bin ich unterwegs in den Straßen von Halle. In meinem Kopf sind noch die Fragen präsent, die heute Morgen über mich herfielen, als wären sie Parasiten. Unaufhörlich drehen sich meine Gedanken im Kreis, fast wie ein Schwarm Fliegen um ein verwesendes Stück Fleisch. Ich nehme nicht wahr, dass sich eine Folge aus feinen Tönen in den gewohnten Klang der Stadt einmischt. Mit blinden Ohren und tauben Augen renne ich durch meinen Tag, will allen Anforderungen gerecht werden. Der Kontrabassist am Straßenrand hat es schwer meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Doch sanft und fast unbemerkt dringt seine Melodie in mein Bewusstsein. Als ich stehen bleiben, bin ich schon fast an ihm vorbeigerannt. Ich möchte ihm zuhören.

Ich muss schmunzeln. Er sitzt im Jogginganzug an seinem Instrument, vertieft in seine eigene Musik. Im ersten Moment bin ich erstaunt, denn sein Spielen klingt für meine Ohren ungewöhnlich verloren und einsam. Es ist der Soundtrack seines Lebens und ich bin nicht in der Lage, die restliche Band zu hören, die ihn in seinem Kopf begleitet. Ich beobachte wie seine Finger zielsicher über die Seiten tanzen und bemühe mich zwischen den Tönen zu lesen.

 

Er steht am Fenster und ist wieder der kleine Junge von damals. In den Augen, die sich im Glas spiegeln, kann ich seine Hoffnung lesen, die felsenfest überzeugt ist, nicht enttäuscht zu werden. Sehnsüchtig sucht er die Straße vor dem Haus ab. Er möchte ihn entdecken, will der erste sein, der ihn sieht. Er will im Haus umherrennen und aus voller Kehle verkünden, dass er zurückkommt: SEIN VATER.

Der Junge steht dort an seinem Fenster für Stunden – aus denen Tage, Wochen und Monate werden, aber niemand kommt. Im Osten spielen die Erwachsenen Zweiter Weltkrieg und sein Vater war zur Spielfigur geworden. Dass er von einem braunen Spielmännchen der eigenen Mannschaft aus dem Spiel geworfen wurde, hatte man dem kleinen Jungen zwar erzählt. Doch er wollte es ihnen nicht glauben. Die Hoffnung stirbt schließlich zuletzt. Deshalb bleibt er am Fenster stehen und wartet.

Er wartet.

Er wird müde, je länger er wartet.

Angestrengt von der Suche nach seinem Vater, werden seine Augen schwer und der Junge schläft ein. Er schwört sich nach dem Motto zu leben: Augen zu und durch!

 

Jetzt – viele Jahre später – sitzt er hier am Straßenrand. Mit geschlossenen Augen hört er auf seinen eigenen Soundtrack. Seine Musik erzählt vom kleinen Jungen der zum Mann wurde. Sie tröstet ihn. Mit ihr entflieht er allem Chaos in eine eigene Welt, seine eigene Ordnung aus Tonleitern und Intervallen, aus Disharmonien und Auflösungen, aus Rhythmus und Gefühl. Die Band in seinem Kopf spielt einen ruhigen Blues und er improvisiert dazu. Er ist schließlich Meister darin. Mit den Unvollkommenheiten seines Lebens hat er sich angefreundet, um nicht wieder enttäuscht zu werden.

 

Als ich den Kontrabassisten betrachte, bricht die Sonne durch die Wolken und erfasst sein von Falten gezeichnetes Gesicht. Er genießt die Wärme und scheint aufzublühen. Neues Leben erfüllt seinen müden Körper. Er öffnet seine Augen – nur für einen kurzen Blick – und betrachtet die Sonne. Er sieht friedlich aus. Er lächelt. Dann verliert sich der Kontrabassist wieder in seiner Musik und seine Finger tanzen behutsam über die Seiten.

Ich erwidere sein Lächeln. Seine Suche hat ein Ende gefunden. In einem kurzen Moment konnte ich Ruhe in seinem Blick erkennen, mit der er unscheinbar und ehrlich seine Umgebung ausfüllt.

In der Luft liegt Musik – Nur die Menschen im Getümmel, die merken es nicht.

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